175 Jahre Stenovereinsleben in Sachsen

Heute will ich - nach der langen Pause etwas ausführlicher - über ein Ereignis schreiben, das für die stenografische Gemeinschaft Anlass bietet, weit zurückzuschauen. Vor 175 Jahren wurde nämlich hier in Sachsen, genauer gesagt: in Leipzig, der erste Gabelsberger Stenographenverein Deutschlands gegründet.

Wie kam es damals dazu und was wurde daraus? Ein paar Studien in der Stenografischen Sammlung - vor allem in der Festschrift zum 50. Jubiläum des Vereins von Emil Zehl - haben es möglich gemacht, dass ich das hier etwas erhellen kann.

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Natürlich hat unser Namenspatron Wigard auch hier einen nicht unwesentlichen Anteil, war er es doch, der Franz Julius Anders, der damals in Dresden Medizin studierte, 1838 in die Geheimnisse des Gabelsbergerschen Systems einführte. Das muss sehr erfolgreich gewesen sein, denn schon ab 1839 ist dieser am Sächsischen Landtag als Stenograf tätig gewesen.

Es war dann wohl 1842, als Anders nach Beendigung des Studiums als Kompaniearzt nach Leipzig versetzt wurde. Hier widmete er sich dann verstärkt der Lehrtätigkeit auf stenografischem Gebiet. Angeregt durch die schon 1844 in Berlin und 1845 in Magdeburg erfolgten Vereinsgründungen von Anhängern des jüngeren und eigentlich noch nicht so verbreiteten Stolzeschen Systems beriet Anders mit seinen Schülern den Plan, einen Verein ins Leben zu rufen, und veröffentlichte eine entsprechende Einladung im “Leipziger Tageblatt”.

Am 4. Juli 1846 traten 20 stenografiekundige Männer im Lokal der Polytechnischen Gesellschaft zusammen und betrauten Anders in Zusammenarbeit mit dem Stud. med. Schildbach und dem Wirtschaftsekretär Maass mit den Vorbereitungen und der Ausarbeitung von Statuten. Am 23. Juli wurden in einer 2. Versammlung die Statuten vorgelegt und genehmigt.

Am 30. Juli 1846 war es dann soweit und 14 Herren gründeten den stenografischen Verein, einer davon war sogar ein Stolzeaner. So war ursprünglich auch beabsichtigt, im Verein verschiedene Systeme kennenzulernen und zu prüfen. Die Entscheidung über das als das Beste erkannte sollte vorbehalten bleiben. Zur Fortbildung der Mitglieder wurden drei Übungskränzchen für Gabelsbergersche und eins für Stolzesche Stenografie eingerichtet. Allerdings wurde dieser neutrale Standpunkt nicht lange aufrechterhalten, und man entschied sich nach einem Vortrag des Vorsitzenden Anders über Wesen und Wert der zwei in Frage kommenden Systeme für das von Gabelsberger.

Dem Meister selbst wurde von der Vereinsgründung Kenntnis gegeben und ihm die Ehrenmitgliedschaft angetragen, die dieser in einem Brief vom 6. Oktober gern annahm. Wigard seinerseits stand dem Vereinsziel, u.a. auch Verbesserungen am System zu suchen, ablehnend gegenüber und prophezeite dem Verein kein langes Leben.

Diese Vorhersage erwies sich glücklicherweise als falsch. Immerhin konnte Anders schon im März 1847 an Wigard berichten, dass einige der Mitglieder u.a. beim Nachschreiben von Predigten, Vorlesungen und in den Sitzungen der Stadtverordnetenversammlungen ihre Fähigkeiten bewiesen hätten. Allerdings ist später auch immer wieder von mangelnder Teilnahme an den Übungsabenden zu lesen.

Es gab außerdem über die Jahre Bestrebungen seitens des Vereins, die Stenografie als Lehrfach an Schulen oder der Universität zu etablieren, was anfangs noch nicht von Erfolg gekrönt war. Der erste private Unterricht von zwei Damen - bis dahin war Stenografie ja eine reine Männderdomäne - durch Anders wird für 1847 vermerkt. Als erstes Gymnasium hatte das Moderne Gesamtgymnasium in Leipzig 1849 die Stenografie zum Pflichtfach erhoben. Die politischen Ereignisse 1848/49 brachten auch viel Arbeit für die Leipziger Stenografen in Berlin, Erfurt, Weimar und Hannover und zeigten wohl auf diesem Gebiet Überlegenheit des Gabelsbergerschen System, was allerdings ein Punkt war, um den man sich über die Jahre immer wieder mit den Anhängern des Stolzeschen Systems teils erbitterte Glaubenskämpfe lieferte.

Die Finanzen war auch immer wieder ein Thema. 1850 führte die vollständige Leere der Kassen - Klagen über die mangelnde Zahlungsmoral der Mitglieder sind häufig zu lesen - zu dem Beschluss, einen monatlichen Beitrag von drei Groschen zu erheben.

1854 führte man den ersten öffentlichen Unterricht durch. Die Mitgliederzahl betrug 31.

Zur Feier des 10. Stiftungsfestes am 30. Juli 1856 waren Gäste aus den Vereinen von Dresden, Halle, Chemnitz und Annaberg anwesend.

Dem 1860 gegründeten Sächsischen Gesamtverein trat man wegen Differenzen zu den Satzungen nicht bei. Meinungsverschiedenheiten zum Königlichen Stenographischen Institut in Dresden sind nicht zu übersehen. Zusammen mit dem Bautzener Verein und dem Verein Tironia aus Dresden wurde am 18. November 1864 als Pendant ein Sächsischer Stenografenbund ins Leben gerufen. Erst im Jahr 1874 wird von einem wiederhergestellten guten Verhältnis zwischen den beiden sächsischen Stenografenverbänden berichtet. 1868 trat man dem aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Gabelsberger Kunst gegründeten Deutschen Gabelsberger Stenographenbund bei.

1870 wurde der erste öffentliche Damenkursus abgehalten, zu dem sich 12 Teilnehmerinnen einfanden.

Zum 25. Jubiläum im Jahr 1871 wurden 228 Mitglieder gezählt, und die Vereinsbibliothek war auf über 900 Bände angewachsen. Zur Feier waren Gäste aus 39 Städten angereist. Ein Jahr später wurde dann auch Wigard, der seine Meinung über den Verein wohl geändert und schon 1847 in Dresden einen Verein gegründet hatte, zum Ehrenmitglied ernannt.

Vom 15. -17. August 1874 trafen sich 133 Teilnehmer aus 51 Orten (sogar aus Dänemark und Norwegen) zum 1. Deutschen Gabelsberger Stenographentag in Leipzig. Zum 4. Stenographentag 1890 in München wurde das Gabelsbergerdenkmal enthüllt, zu dessen Aufstellung die Leipziger Stenografen mit 2000 Mark beigetragen haben.

In seinem 49. Jahr verzeichnet die Chronik die “Lahmlegung der seit einiger Zeit bemerkbar gewordenen Bestrebungen, im Verein eine engere Vereinigung jüngerer Mitglieder zu Vergnügungszwecken zu bilden”.

Ein Höhepunkt im Jubiläumsjahr 1896 war die Teilnahme am 5. Stenographentag in Wien. Der Verein hatte nun 271 Mitglieder, darunter 68 außerordentliche (Damen) und vier Teilnehmer an Übungsgemeinschaften. Das wiederum waren Jugendliche unter 18 Jahren, die nach damaligen Vereinsgesetz noch nicht Mitglied werden konnten.

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Hier endet der Rückblick auf die ersten fünfzig Jahre des Vereins. Aber auch danach ging das stenografische Leben in Leipzig bis zum heutigen Tage weiter und brachte immer wieder ausgezeichnete Praktiker und Wettschreiber hervor. Wenn im 50. Jahr betont wurde: “Was der Verein schon im ersten Jahre seines Bestehens erstrebt hatte, eine regelmäßige praktische Thätigkeit am Ort, durch Aufnahme der Stadtverordneten-Verhandlungen, ward ihm im 50. zuteil. Seit 13. November 1895 werden die öffentlichen Verhandlungen … durch ein vom Vereinsvorsteher geleitetes und aus Vereinsmitgliedern gebildetes Bureau übernommen.”, so hat sich dies bis in die 2010er-Jahre gehalten, bis zu denen der unvergessene Manfred Kehrer diese Sitzungen jahrzehntelang - oft allein - übertragen hat.

So wünschen wir dem nach der friedlichen Revolution in alter Tradition gegründeten “Stenografenverein Leipzig 1990” e. V. ein hoffentlich langes Fortbestehen. Wenn dort am 30. Juli auf den ersten Gabelsberger-Stenographenverein angestoßen wird, kann dies in vorgerückter Stunde vielleicht auch mit einem Lied untermalt werden, das der Leipziger Edwin Bormann zum 50. Jubiläum zur Melodie unserer heutigen Nationalhymne in sächsischer Mundart gedichtet hat:

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’s Lied von der Fixiggeit
aus “Fest-Lieder zum 50-jährigen Jubiläum”

Frieher, sehnse, heernse, nämlich
Gingk hibsch alles seinen Gangk,
Ohne Drasch und hibsch bequemlich,
Beh à beh und dusemankg.
Doch das Moddo unsrer Zeiden
Is: Mer hawen geene Zeit;
:,: Hefdig brillt’s von allen Seiden:
Fifat hoch de Fixiggeit! :,:

Gennt ihr unsern Gawelsberger?
Schämt eich, wenn ihr den nicht gennt!
Denn der is ä Zeiterwärger,
Der, der ihn nicht Meester nennt.
Willst du länger noch verprassen
In Gurrentschrift deine Zeit?
:,: Menschheet, lerne gurz dich fassen,
Iwe Steno-Fixiggeit! :,:

Manchmal kriegt mer se ja dicke
Diese Zeit der Drascherei,
Doch dann werf’ ich stets de Blicke
Uf den Stenegraphenblei.
Blitzschnell den Gedanken backen
Wie das Hirn ihn feierspeit - :,:
Stolz werf’ ich mei Haupt in Nacken -
Hoch du heechste Fixiggeit! :,: